Sexarbeit in Wiesbaden: Schulden, Abhängigkeit, fehlender Schutz. Ein Bericht offenbart erschreckende Zustände – und den dringenden Handlungsbedarf der Politik.
Spätabends, wenn die Straßen leerer werden und das Stadtleben allmählich zur Ruhe kommt, beginnt für viele Frauen in Wiesbaden ein anderer Alltag. Saskia Veit-Prang, Expertin für Frauenrechte und Leiterin des kommunalen Frauenreferats, weiß wovon sie spricht. Auf Einladung der Stadtverordnetenversammlung tritt sie am Donnerstag ans Rednerpult der Stadtverordnetenversammlung und bringt Licht in ein oft verdrängtes Thema. Sie präsentiert den jüngsten Tätigkeitsbericht zur Prostitution in Wiesbaden, ein Dokument, das aufrüttelt und die politischen Verantwortlichen zum Handeln drängt. Und wirbt für mehr Geld, um Frauen auf Abwiegen zu Unterstützen. Wir betreten eine Wohnung, in der sechs Frauen in einem einzigen Raum leben. Sie schlafen auf Matratzen am Boden, haben kaum Privatsphäre, geschweige denn eine sichere Umgebung. Das einzige Licht, das den Raum erhellt, stammt von den Displays ihrer Smartphones, mit denen sie auf Nachrichten von Freiern warten, fährt Veit-Prang fort.
Erschütternde Zahlen, klare Fakten
Mit analytischer Präzision zeichnet die Leiterin des kommunalen Frauenreferats ein Bild der aktuellen Lage: In Wiesbaden arbeiten nachweislich mindestens 1.211 Personen in der Prostitution, darunter 1.041 Frauen und 170 transidente Männer. Diese Zahlen basieren auf fast 6.000 Anzeigen, die das Frauenreferat in akribischer Detailarbeit auswertete. Noch alarmierender: Zwei Drittel der Sexarbeit finden an Orten statt, an denen Sexarbeit illegal ist. Wohnungen, Hotels, Massage-Studios und temporäre Unterkünfte bilden ein undurchsichtiges Netz, in dem Frauen oft in Abhängigkeit gehalten werden.
Doch was bedeutet das konkret? Es ist nicht nur eine Frage der Legalität. Viele dieser Frauen haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, keine Krankenversicherung, kein soziales Netz. Sie werden von Zuhältern oder kriminellen Netzwerken kontrolliert, ohne Chance auf eine unabhängige Lebensgestaltung, erklärt Veit-Prang weiter.
Ein System der Abhängigkeiten
Hinter diesen Zahlen stehen Einzelschicksale, Frauen, die kaum Kontrolle über ihr eigenes Leben haben. Viele wissen nicht, in welcher Stadt sie sich gerade befinden, geschweige denn, wem sie sich anvertrauen könnten. Sie sind finanziell ausgebeutet, zahlen hohe Mieten für ihre Unterkünfte, hohe Steuern an den Staat, und dennoch bleibt ihnen am Monatsende kaum etwas zum Leben.
Das Wiesbadener Modell der aufsuchenden Sozialarbeit bietet einen der wenigen Ankerpunkte. Eine einzige fest angestellte Mitarbeiterin betreut die Frauen, unterstützt von Dolmetscherinnen und Ehrenamtlichen. Doch es reicht nicht aus. Mit den aktuellen Ressourcen können wir nur einen Bruchteil der Betroffenen erreichen, mahnt Veit-Prang eindringlich.
Die durchschnittlichen Fixkosten einer Prostituierten belaufen sich auf etwa 4.700 Euro monatlich. Viele Frauen beginnen ihren Arbeitstag bereits mit einem Schuldenberg, führt die Frauenbeauftragte aus. Das bedeutet, dass sie keine Wahl haben, welche Kunden sie annehmen oder welche Bedingungen sie stellen. Eine Absage an einen Freier bedeutet finanziellen Ruin.
Digitale Plattformen und versteckte Netzwerke
Längst sind nicht mehr nur Bordelle und Straßenstrich Orte der Sexarbeit. Digitale Vermittlungsplattformen wie Escort-Services oder Sugar-Dating-Portale verlagern das Geschehen zunehmend ins Internet. Wir sehen, dass immer mehr Frauen nicht einmal wissen, für wen sie arbeiten, erklärt Veit-Prang. Sie erhalten Anweisungen von anonymen Auftraggebern, die sie über Messenger-Dienste steuern. Es gibt keine direkte Kontrolle über ihre eigenen Einnahmen, und viele werden in einem System von Schulden und Abhängigkeiten gefangen gehalten.
Politischer Handlungsbedarf
Die Stadtverordneten hören aufmerksam zu, als Veit-Prang das Wort an sie richtet: Unsere Aufgabe ist es, diesen Menschen Schutz zu bieten und ihnen Wege aus der Abhängigkeit zu eröffnen. Sie fordert eine Verdopplung der Mittel für das Beratungsangebot. Andere Städte, so betont sie, verfügen über deutlich mehr Ressourcen für vergleichbare Programme. Wir sind kein Experiment mehr, sondern ein etabliertes Hilfsangebot, das dringend ausgebaut werden muss.
Die Dringlichkeit ist spürbar. Neben der finanziellen Aufstockung plädiert Veit-Prang für eine bessere Verzahnung mit Ordnungs- und Gesundheitsbehörden, um den Frauen effizienter helfen zu können. Wir brauchen mehr geschützte Räume, niedrigschwellige Beratung und vor allem: politische Unterstützung.
Die Stadt Wiesbaden steht vor einer wichtigen Entscheidung. Wird sie das Thema weiter an den Rand drängen oder endlich aktiv handeln?
Foto oben ©2023 Pixabay
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